Der Mensch ist ein Überraschungsei

Nach der Yoga-Philosophie der Upanishaden ist der Mensch ein Schalentier, das aus verschiedenen Hüllen bzw. Schalen besteht, die seinen Wesenskern bedecken, umhüllen. Sie betten diesen Kern in sich ein, beschützen ihn, verbergen ihn aber auch. Der Mensch ist aus dieser Perspektive mit einem Überraschungsei zu vergleichen. Von diesem sieht man im Supermarkt nur die rot-weiße Hülle mit der Aufschrift von Ferrero, doch darunter befindet sich eine Schicht aus brauner Schokolade, darunter eine aus weißer Schokolade, darinnen liegt die gelbe Plastikhülle und in dieser wartet der Schlumpf darauf, ausgepackt und zur Sammlung gestellt zu werden.    

Eine ähnliche Sichtweise ist in Bezug auf den Menschen möglich. Die äußerste Hülle, die Nahrungshülle (Annamaya-Kosha) meint unseren physischen, sichtbaren Körper, der geboren wird, eine zeitlang lebt und dann wieder stirbt, der wächst, altert und wieder in seine Einzelteile zerfällt. Die Nahrungshülle ist die gröbste der fünf Hüllen und die einzige Hülle, die äußerlich sichtbar ist: unser materieller Körper. Er besteht aus den Elementen und Grundstoffen der Natur, die wir – bzw. vor unserer Geburt unsere Mutter – durch die Nahrung aufnehmen. Diese Hülle verbindet uns mit dem Reich der mineralischen Welt, in dessen Grundstoffe er, sobald der Mensch stirbt, wieder verfällt und sich auflöst.

Doch innerhalb dieses materiellen Körpers lebt die Lebenshülle (Pranamaya-Kosha), die den stofflichen Körper belebt und am Leben erhält. Diese Hüllen haben wir mit den Pflanzen und allen Bereichen des Pflanzenreiches gemein. Sie umfasst das Prinzip des Wachstums, des Stoffwechsels, der Atmung, der Befruchtung usw. Außerdem äußert sie sich in innerkörperlichen Wahrnehmungen wie Hitze und Kälte oder Hunger und Durst. Im Falle eines jeden lebendigen Wesens sowie jeder lebendigen Pflanze bilden Nahrungshülle und Lebenshülle eine Einheit. Trennen sich Nahrungshülle und Lebenshülle voneinander, so heißt dies, dass das Leben aus dem Körper entweicht, der Körper stirbt und nach und nach wieder in seine Einzelteile zerfällt.

Innerhalb der Nahrungs- und der Lebenshülle befindet sich die Gefühlshülle (Manomaya-Kosha), die Hülle der Emotionen, des Triebes, des Willens, unseres Unterbewusstseins und des Vorstellungsvermögens. Hierzu gehört alles, was wir mit den Tieren gemeinsam haben. Das Prinzip der Bewegung, der Körperkoordination, des Gleichgewichts, der Geschlechtstrieb, Lust und Unlust, Antipathie und Sympathie, Leid, Schmerz und Zorn, Angst und Durchhaltevermögen, der Wille zum Kampf oder zur Flucht entstammt diesem Bereich. 

Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Erkenntnishülle (Vijnanamaya-Kosha), der Bereich des Denkens, der Vernunft, der Logik. Hierzu gehört auch die Fähigkeit des Zweifels sowie der Entscheidung, des freien Willens. Die Fähigkeit zur Abstraktion, zur Analyse, zum Rechnen und Berechnen, sind hier angesiedelt. 

Doch all das sind nur Bedeckungen, Verhüllungen des Kerns des Menschen. Die innerste Hülle des Menschen, die Freudenhülle (Anandamaya-Kosha), ist der Bereich aller positiven Emotionen, die uns beglücken, heilen, befreien und unserem Leben Sinn vermitteln. Jedes Gefühl der Freude und der Liebe tut uns gut, heilt unsere Ängste, stärkt unser Wesen. Hier fühlen wir uns ganz zuhause und im Frieden. 

Der Schlumpf: das Selbst

Die Upanishaden definieren das Selbst, den Wesenskern des Menschen mit drei Begriffen. Das Selbst ist seiend (sat), und zwar ewig seiend. Desweiteren ist es geistig (cit), d.h. Bewusstsein. Drittens ist es voller Freude (ananda). Kennzeichen eines reifen, entwickelten Menschen ist seine Freudenkraft, die auf andere Menschen ausstrahlt und diese verwandeln kann. Man kann diesen Gedanken auch umkehren: Jeder Mensch, der eine starke Freudenkraft besitzt, lebt sehr nah an seinem Wesenskern. Freude kann nur mit Authentizität, nur mit Wahrhaftigkeit und auch nur mit Selbstsicherheit einhergehen. Ein ängstlicher Mensch strahlt niemals Freude aus. Ein Mensch, der seine Freudenkraft im Innern kennt, hat keinen Grund, sich vor irgendetwas zu fürchten.

Die große Botschaft des Yoga ist die der eigenen Freudenkraft im Innern eines Menschen, einer Kraft, die uns völlig unabhängig macht von äußeren Ursachen der Freude wie etwa einem guten Essen, einem neuen Kleid, einem neuen Auto etc. Eine Quelle der Freude in seinem Innern zu wissen, torpediert diese Abhängigkeit und macht Menschen unabhängig und – frei. 

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