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Keine Angst vor Yoga
Es gibt Menschen, die Angst vor Yoga haben. Anthroposophen zum Beispiel lehnen aufgrund einiger Aussagen von Rudolf Steiner klassisches indisches Yoga ab. Dieser Artikel, erschienen in der anthroposophischen Zeitschrift Info3 im Mai 2015, soll hier Aufklärungsarbeit leisten und aufzeigen, warum diese Angst unbegründet ist.
Aus dem Fundus der gegenwärtigen Spiritualität ist Yoga nicht mehr wegzudenken. Yoga ist eine Weltbewegung geworden. In Deutschland gibt es mittlerweile weit über ca. 100.000 Yogalehrer, darunter 10.000 Hauptberuflich Tätige und zwischen 2,6 und 5 Millionen Praktizierende. Laut einer Umfrage des BDY (Bund Deutscher Yogalehrer) können sich 16% der Deutschen (12,5 Millionen) vorstellen, im nächsten Jahr mit der Yogapraxis zu beginnen. Allein der zweitgrößte Yoga-Berufsverband (BYV) bildet jährlich etwa 1000 Yogalehrer aus. Die Tendenz ist steigend. In den USA gehört Yoga mittlerweile zu den 10 wichtigsten Wachstumsbranchen.
Nur unter Anthroposophen gilt Yoga immer noch als rotes Tuch. Wer sich in anthroposophischen Kreisen öffentlich als Yogi outet, erntet bestenfalls erstaunte Blicke und läuft Gefahr, als unwissend oder sogar gefährlich beurteilt zu werden. Ein offener Dialog scheint unmöglich. In anthroposophischen Bibliotheken findet man in der Regel zu jedem Thema der Welt mehr Bücher als zur östlichen Spiritualität.
Das negative Bild der Anthroposophie vom Schulungsweg des Yoga hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass die Anthroposophie sich selbst im Dialog mit den spirituellen Traditionen aus dem Osten isoliert hat. Dabei ist davon auszugehen, dass die Yoga-Praktizierenden auch innerhalb der anthroposophischen Kreise, seien es Eltern, Schüler oder Kollegen, zunehmen werden. Konflikte sind daher vorprogrammiert.
Rudolf Steiner nennt in seinen Vorträgen den klassischen Yoga „etwas Vergangenes“. Er gibt dafür drei Gründe an:
- Yoga vertrete einen Dualismus in Form einer Trennung von Materie und Geist verbunden mit einer Entfremdung von der Erde und Hoffnung auf ein Heil im Jenseits. In Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten setzt Steiner dem entgegen: „Die Aufgabe des Menschen ist durchaus auf der Erde zu suchen. Und wer den Aufgaben auf der Erde sich entziehen und in eine andere Welt flüchten will, der mag sicher sein, daß er sein Ziel nicht erreicht.“ (GA 600, S. 183)
- Die Kultivierung der Atemtechnik (pranayama) nennt Steiner den „Luftseelenprozess“. In alter Zeit hätten die Yogis über die Luft eine Kraft eingeatmet, die heutzutage durch die Meditation über das Licht – durch den „Lichtseelenprozess“ – zu beziehen sei. (GA 211, S.97)
- Die harte Askesetechnik der Yogis habe dazu geführt, „den Körper abzustumpfen“ und ihm „Schmerz zuzufügen“. (GA 212, S. 141)
Aus der Perspektive von vor 100 Jahren ist diese Ansicht nachvollziehbar.
Sie bezieht sich auf die der Überlieferung nach uralte, nach den schriftlichen Quellen mittelalterliche Praxis des indischen Hatha- und Kundalini-Yoga.
Die moderne Yogapraxis in der westlichen Welt ist allerdings mit dem mittelalterlichen indischen Hatha- und Kundalini-Yoga nicht mehr gleichzusetzen. Der moderne Yoga ist eine Neu- und Umgestaltung des alten Yogaweges durch eine Handvoll indischer Yogalehrer des vergangenen Jahrhunderts, deren westliche Schüler den Kern ihrer Lehre praktizierten und wiederum auf die Bedürfnisse der westlichen Welt anpassten.
Wer in Deutschland in ein Yogastudio geht, lernt durch langsame und achtsame Bewegungen, seinen Körper zu flexibilisieren, zu öffnen und zu kräftigen. Er lernt, durch die Zusammenführung von Bewegung und Atmung eine Kohärenz von Herzschlag und Atmung herzustellen. Er lernt, bewusst lang und tief zu atmen. Und er lernt, sei es in einer liegenden, sitzenden oder stehenden Position, die Unruhe im Geist zu beobachten und in einen meditativen Zustand zu kommen.
Weltflucht und Askese
Mit Weltflucht und Askese hat die heutzutage gelehrte Yoga-Praxis zumindest in der Ausbildung der großen Berufsverbände – BDY, YA (Yoga-Alliance), BYV (Bund der Yoga-Vidya-Lehrer) – nichts mehr zu tun.
Ein Beispiel dafür ist die heutzutage übliche Beschreibung des Ziels des Yogaweges. Im ältesten Yogatext, der Bhagavad Gita, wird das Ziel des Yoga-Weges moksha bzw. mukti (Befreiung) noch als ein Eingehen in ein jenseitiges Reich (avyayam padam, Bhagavad Gita 15,5) definiert.
Offenbar hat in Bezug auf die Verwendung des Begriffs der Befreiung eine Entwicklung bzw. Modernisierung stattgefunden. Im heutigen Yoga ist das alte weltabgewandte Ideal der Befreiung aus dem Zyklus von Geburt und Tod (samsara) ist den Hintergrund getreten und durch ein anderes verdrängt worden: Das Ideal des jivanmukta, des im Leben (jiva) befreiten (mukta) Menschen, bzw. des jivanmukti oder jivamukti, das Ideal der Befreiung (mukti) des Geistes während des Lebens auf der Erde. Ein Beispiel: Zwei der erfolgreichsten Yogalehrer der Welt, Sharon Gannon und David Life aus New York, haben ihre Yogaschule nach diesem Ideal Jivamukti-Yoga genannt. In dieser Schule hat auch der Münchner Patrick Broome gelernt hat, der Yogalehrer von Jürgen Klinsmann, Oliver Bierhoff und der gesamten deutschen Fußball-Nationalmannschaft.
Swami Sivananda, einer der Väter des modernen Yoga des letzten Jahrhunderts, bekam einst von einem seiner Schüler die Frage gestellt: „Was ist Moksha?“ Seine Antwort war: „Es ist Sarvaduhkhanivritti (Beseitigung allen Leids) und Paramanandaprapti (Erlangung der höchsten, unsterblichen, ewigen Glückseligkeit).“ Auch das Yogalehrer-Handbuch „Der Weg des Yoga“, das Standartlehrbuch des BDY, dem größten Deutschen Dachverband, betont die diesseitige Ausrichtung des Yoga: „Yoga ist das Aufdecken der geistigen Wirklichkeit in der materiellen Erscheinungswelt.“ (Friedrich Schulz-Raffelt)
Das Ziel des modernen Yoga ist nicht mehr der Ausbruch aus dem Kreislauf der Wiedergeburten, sondern die Beendigung des Leidens und die Erkenntnis der im Menschen wohnenden Freudenquelle – hier auf dieser Erde.
Pranayama – der Atemtechnik
Vor dem Pranayama, d.h. der Atemtechnik, wird wie gesagt von Rudolf Steiner mit Nachdruck gewarnt. Der Grund dafür liegt wie oben angedeutet in Rudolf Steiners Darstellung vom Yoga als „Luftseelenprozess“. Im Yoga-Sutra, dem ältesten Yoga-Lehrbuch, allerdings bedeutet Pranayama nichts weiter als die Beruhigung des Atems. Im kompletten Yoga-Sutra verwendet Autor Patanjali fünf Lehrsätze (Sutras) auf die Atemtechnik. Die Definition des Pranayama in den Sutras lautet: „Die Atemtechnik (Pranayama) ist ein Innehalten im Rhythmus von Einatmung und Ausatmung.“ (2.49) Sie soll „lang und sanft“ sein, und dabei in ihrer „Dauer und Anzahl der Atemzüge“ beobachtet werden (2, 50). Die „Anhaltephase“ soll dabei „länger sein als die Einatmung und Ausatmung“ (2, 51). Das wichtigste Sutra zum Thema Pranayama ist aber das nächste, wo es heißt, das als Folge des Pranayama „der Schleier vom Licht des wahren Selbst“ verschwindet (2, 52). Dieser Vers ist ein wichtiger Beleg für die yogische Sicht vom lichthaften Wesenskern des Menschen, der vom Schleier des psychosomatischen Systems überdeckt wird. Der Vorgang des Yoga besteht in der Auflösung dieses Schleiers. Durch Pranayama wird über die Beruhigung des Atems auch „das Gedankensystem (citta) beruhigt“ (2, 54) und somit auf die Meditation vorbereitet.
Im landläufigen Unterricht in den Yoga-Studios im Westen spielt hat die Pranayama-Praxis, sieht man einmal von der Kundalini-Yoga-Tradition ab, im Regelfall nur die Funktion, in den Asanas Atem und Bewegung zusammenzuführen und die Gedanken für die Meditation zu beruhigen – und dies mit nachweisbarer Wirkung: In den USA wurde 2012 eine Studie durchgeführt, für die der Neurologe Richard Davidson mit amerikanischen Kriegsveteranen, die unter der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS bzw. engl. PTSD) litten, ein 7-tägiges Pranayama-Training durchführte. Motivation der Studie war die enorme Selbstmordrate amerikanischer Veteranen aus dem Irak und Afghanistan. Davidson konnte bewirken, dass die PTBS-Beschwerden und Angst-Symptome der traumatisierten Veteranen durch die Yoga-Atemübungen gesenkt werden konnten, bei einigen um 40%, Schlafbeschwerden gar zum bis zu 70%. Für viele der Veteranen bedeutete die Teilnahme an der Studie möglicherweise die Rettung ihres Lebens. Das „Center for Investigating Healthy Minds“ in Wisconscin empfiehlt seitdem, Pranayama zur klinischen Behandlung von PTBS einzusetzen. Der Verlauf der Studie wurde von der Dänin Phie Ambo in dem hoch geachteten Dokumentarfilm „Free the Mind“ in die Kinos gebracht.
Der medizinische Aspekt des Yoga
Im heutigen modernen Yoga wird innerhalb der großen Berufsverbände keine harte Askese im Sinn des klassischen Hatha-Yoga mehr gelehrt. Der heutigen Yoga-Praxis wird von Seiten der zeitgenössischen psychologischen und neurologischen Forschung einhellig ein positives Zeugnis ausgeschrieben.
In einer Studie des BDY (Bund Deutscher Yogalehrer) zum Thema „Yoga in Deutschland“ wurde ermittelt, dass 90% der aktuell Yoga-Praktizierenden (und 100% der Männer!) aufgrund der Yoga-Praxis eine „Veränderung bei sich wahrgenommen haben“: Sie sind „ausgeglichener / entspannter (59%), körperlich fitter (32%), fühlen sich wohler (30%), haben eine bessere Atmung (11%) und sind konzentrierter (7%).“
Die Zeitschrift GEO wertete für ihr Titelthema im Juni 2013 sämtliche neueren Studien aus und bescheinigte der Kultbewegung eine positive Wirkung auf die Schlafqualität, den Blutdruck, auf Depressionen und Angsterkrankungen, auf Belastungssituationen, Prostata-Krebs, Brustkrebs, die posttraumatische Belastungsstörung und sogar die Gehirnleistung.
Yoga hat durch erfolgreiche wissenschaftliche Evaluation den Zugang in die Schulmedizin gefunden. Es wird mittlerweile therapeutisch auf ärztliche Anweisung bei koronaren Herzerkrankungen, bei Diabetes, bei Asthma, bei chronisch-degenerativen Rückenschmerzen, bei verschiedensten Schmerzsyndromen, bei leichten und mittelschweren psychischen Erkrankungen und bei verschiedensten Süchten eingesetzt.
Yoga ist mittlerweile von allen gesetzlichen Krankenkassen als primärpräventive Maßnahme zur Steigerung der Stressbewältigungskompetenz im Sinne des Präventionsleitfadens anerkannt.
Der moderne Yoga hat sich ist nicht mehr weltablehnend, nicht mehr jenseitsorientiert, nicht mehr körperfeindlich und auch nicht schädlich oder gefährlich für Körper oder Psyche. Im Gegenteil: Eine genaueres Hinschauen zeigt, dass sich der alte Schulungsweg des Yoga weiterentwickelt hat zu einer zeitgemäßen Welt- und Körperfreundlichkeit.
Hier liegt vielleicht eine Erklärung für den enormen Erfolg und die rasante Verbreitung des Yoga in der heutigen westlichen Welt.